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Forschung - Stuttgart

Ökosysteme in der Vertikalen

Gleich zwei Forschungsprojekte in Baden-Württemberg untersuchen derzeit, welche positiven Effekte begrünte Fassaden im urbanen Raum auf die Artenvielfalt haben: Die beiden Projekte, „BioDivFassade“ und „Die wilde Klimawand“.

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Helix
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Wissenschaftliche Begleitung

Für die Forschungsprojekte "BioDivFassade" und "Die wilde Klimawand" wurden in Stuttgart neue Prototypen für eine Gebäudebegrünung geschaffen, die in den nächsten Jahren genauestens wissenschaftlich untersucht und analysiert werden. Die erhobenen Daten werden zeigen, inwieweit man mit solchen baulichen Maßnahmen zukünftig zur Reduzierung der Hitzebelastung sowie zur Förderung der Biodiversität in urbanen Räumen beitragen kann. Dafür wurden Teile einer Hallenkonstruktion und eines Bürogebäudes am Fraunhofer Campus in Stuttgart-Vaihingen entsprechend lebendig gestaltet. 

Betreuung und Start der Projekte

Die kooperative Betreuung übernimmt ein Wissenschaftsteam der Universität Stuttgart und des Fraunhofer-Instituts. Praxispartner ist Helix Pflanzensysteme GmbH aus Kornwestheim.

Im Herbst 2022 begann die Planung zur Fassadenbegrünung. Das Wissenschaftsteam erörterte gemeinsam mit dem Spezialisten Helix Pflanzensysteme, welche Gewächse für die vertikale Begrünung mit speziellem Fokus auf Biodiversität ideal sind.

Insekten und Kleintiere im Mittelpunkt

Bei anderen Aufträgen sind zumeist vor allem die Optik sowie geringe Pflegeintensität entscheidende Aspekte der Fassadenbegrünung. Hier standen plötzlich die Insekten und Kleintiere im Mittelpunkt", berichtet Gartenbauingenieurin Juliane Petersohn (Helix) über der Besonderheit des Projekts. „Die verwendeten Pflanzenarten wurden beispielsweise anhand eines wissenschaftlich erforschten Wildbienenscore ausgewählt, der aufzeigt, welche Insekten ein Gewächs als Pollenquelle nutzen. Der Anspruch war, ihnen mit der Vegetation von Frühjahr bis Spätherbst ein möglichst großes Nahrungsangebot zu bieten. Neben unterschiedlichen Wildstauden, Kräutern, Wiesenblumen und Gräsern integrierten wir daher auch Beikräuter wie Löwenzahn, Disteln oder Klee. Denn auch sie sind für Insekten, insbesondere Wildbienen, ungemein wichtig. Allerdings ist es für eine Gärtnerei gar nicht so einfach, Samen von Pflanzen zu bekommen, die nicht klassisch gezüchtet werden. Da mussten wir schon sehr unkonventionell und einfallsreich vorgehen. Speziell für dieses Projekt haben wir zudem die Altersform des Gemeinen Efeus kultiviert. Anders als Jungpflanzen klettert diese nicht mehr, sondern entwickelt sich strauchartig und trägt Blüten und Früchte, die bis in den November hinein eine wichtige Nahrungsquelle für die heimische Tierwelt darstellen.“

Elata und Biomura

Mehr als 6.000 Einzelpflanzen und über 70 Arten kann man jetzt auf einer 200 m² großen vertikalen Fläche am Fraunhofer-Institut entdecken. Zum Einsatz kamen die beiden Grünfassadensysteme 'Helix Biomura' sowie 'Helix Elata'. Die aus recyceltem Kunststoff hergestellten 'Biomura'-Pflanzkassetten sind jeweils 60 x 40 cm groß und verfügen über je 16 Pflanzlöcher. Stauden, Kräuter und Co. wurzeln hier in einer anorganischen Mineralwolle mit sehr niedrigem Trockengewicht. Da für die Unterkonstruktion Trägerschienen aus verzinktem Stahl an die Wand angebracht werden, ist ‘Biomura‘ vergleichbar mit einer vorgehängten, belüfteten Fassade.

Beim System ‘Elata‘ wachsen vor allem Kletterpflanzen in mit Granulat gefüllten, speziellen Kästen und beranken ein stabiles Metallgitter. So bilden sie schon nach kürzester Zeit eine üppig grüne Pflanzenwand. Beim Stuttgarter Forschungsprojekt stehen die Pflanzkästen sowohl auf dem Boden, als auch auf einem Balkon in der zweiten Etage. Es hätte aber auch die Möglichkeit bestanden, sie direkt an der Wand zu verankern. Bereits ab Januar 2023 wurden die ausgewählten Pflanzenkombinationen in den Begrünungssystemen im Gewächshaus vorkultiviert, sodass sich beim Anbringen der Kästen und Kassetten Ende Mai bereits eine ansehnliche Vegetationsschicht gebildet hatte. Die Installation dauerte insgesamt vier Tage.

Lebensräume für die urbane Fauna schaffen

Um die Biodiversität der Fauna zu erhöhen, reicht es allerdings nicht aus, nur das Nahrungsangebot zu verbessern. Auch Lebensräume für die Tiere müssen geschaffen werden. „Die hier installierte Fassadenbegrünung zeichnet sich durch eine hohe Arten- und damit auch Strukturvielfalt aus. So ist sie an die unterschiedlichsten Bedürfnisse von Insekten, Vögeln und Fledermäusen angepasst“, erklärt Dr.-Ing. Pia Krause vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik. „In den Bewuchs wurden außerdem verschiedene Habitatstrukturen aus mineralischen und organischen Materialien integriert. Da befinden sich beispielsweise Nistkästen für Höhlenbrüter, Fledermauskästen, aber auch Totholz, welches Lebensraum vieler Insekten ist, oder Kästen mit ungewaschenem Sand, in dem sich bodennistende Wildbienenarten eingraben können. Ziel war es, dass Nahrungsangebot und Nistplatzstruktur symbiotisch in der Vertikalen wirken.“

Erfolg schnell sichtbar

„Bereits wenige Wochen nach der Installation konnten zahlreiche Tiere, darunter viele wichtige Bestäuberinsekten – wie verschiedene Wildbienen-, Schwebfliegen- und Schmetterlingsarten – auf den begrünten Wänden gesichtet werden“, berichtet Dipl.-Ing. Eva Bender vom Institut für Landschaftsplanung und Ökologie der Universität Stuttgart. „Nach etwa sechs Wochen siedelte sich das erste Amselpaar an und brütete gut versteckt zwischen Minzblättern. Fledermäuse wurden bereits bei der Nahrungssuche in den Abendstunden vor der Fassade gesichtet, die Kästen sind aber noch unbewohnt.“ Ein Vogelkasten wurde allerdings von einem Hornissenvolk bezogen, was das Wissenschaftsteam ebenfalls freute.

Mikroklima und Habitatqualität im Fokus

Langfristig soll in Stuttgart auch erforscht werden, wie ein solches Grünsystem auf das Mikroklima und damit auf die Habitatqualitäten für Flora und Fauna wirkt. „Wir wissen, dass gebäudebrütende Vogelarten wie der Mauersegler in den letzten Jahren unter stark aufgeheizten Niststrukturen leiden. Dies kann dazu führen, dass der Nachwuchs vorzeitig das Nest verlässt und verendet“, so Krause. „Erste Untersuchungen zeigen, dass die vertikale Vegetation durch Beschattung und Verdunstung zu einer deutlichen Reduzierung der Hitzebelastung im direkten Umfeld beiträgt.“ Von diesem Effekt profitieren übrigens nicht allein Vögel und Insekten, auch die Menschen im Gebäude spüren das deutlich.

Vielfalt erhalten und fördern

Nicht nur was die Bepflanzung angeht, auch in Bezug auf das Pflegekonzept unterscheidet sich die Fassadenbegrünung am Fraunhofer-Institut von anderen, berichtet Petersohn: „Die Bewässerung erfolgt hier – wie üblich – automatisch und kann mithilfe von Sensoren digital kontrolliert und gesteuert werden. Beim regelmäßigen Rückschnitt gelten jedoch ganz andere Regeln. Ziel ist es, die Vielfalt zu erhalten und zu fördern. Das bedeutet, dass sich ansiedelnde Spontanvegetation – sagen wir beispielsweise Brennnesseln – aufgrund ihrer hohen ökologischen Bedeutung nicht von der Wand entfernt wird. Lediglich, wenn sich solche Pflanzen zu breit machen und andere Gewächse zu verdrängen drohen, werden sie etwas zurechtgestutzt. Selbst vertrocknete oder abgestorbene Pflanzenteile schneiden wir nur sehr behutsam zurück, denn sie sind wichtige Habitatstrukturen für die Tierwelt.“ 

 

Projektpartner "wilde Klimawand" 

Laufzeit: 01. November 2022 bis 31. Oktober 2024

gefördert vom Klima-Innovationsfonds 

 

Projektpartner "Biodiversitäts-Fassade" 

01. April 2022 bis 31. März 2025

gefördert durch: Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung

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